Hafenmaterial


Je näher die Gestalten kommen, desto klarer werden ihre Umrisse und ihre Absichten. Als seien sie geradewegs einem Alptraum entsprungen, unterstreichen sie durch ihr immer wieder doch verständliches Gegröle ihre realen Absichten: Zecken ausräuchern! Rotes Drecksnest weg! Sie setzen sich immer mehr ab vom dunstigen Nebel des Novemberabends. Es sind nur wenige Personen auf dem Gelände da im Osten des Hafens: diese eine Horde von jugendlichen Vorarlberger Skinheads auf der einen Seite, etwa ein Dutzend, direkt am Anfang des etwa 100 Meter breiten Parkplatzes und drei Bewohner des Areals am anderen Ende, zusammen mit ihren drei Hunden. Weil er gerade aus dem Fenster blickt wird ein Bewohner am sogenannten Flughafengebäudes zufällig Zeuge der Szenerie und holt noch ein paar Leute zusammen, um auch auf den Parkplatz zu laufen. Einer der Bewohner am Parkplatz, der gerade zufällig mit seinen beiden Dobermann-Hunden dort steht, erkennt die Lage, spricht sich kurz mit den anderen ab und sie attackieren die Skinheads mit Hölzern und allem was am Areal so rumliegt. Sie laufen ihnen zu dritt mit den drei bellenden Hunden entgegen, als hinter ihnen fünf weitere Bewohner mit zwei weiteren Hunden gerade am Parkplatz erscheinen. Die Skinheads zogen sich darauf fürs erste zurück.

Im Turm fand E. die Akten aus der Kriegszeit: Namenslisten der Zwangsarbeiter aus Frankreich, Polen, Holland, Belgien, dem Protektorat usw; alle gelistet mit Namen, Eintrittsdatum, eventuellem Austrittsdatum und Nationalität. Dazu die ganze Buchhaltung, zigtausende Reichsmark, listet sogenannte Schnellbaukits für Baracken, Schuppen usf.: ein riesiger Haufen aus schwarzen Ordnern, darin vergilbtes Papier mit Frakturschrift und Currentvermerken, alles einfach auf einen Haufen. Im Schrankenwärterhäuschen fand D. Gasmasken und längsgestreifte Arbeitskleidung, Jacken und Hosen.

Der Herr von der Getränkesteuer nahm seine Überprüfung eines Vormittages im Büro vor; stundenlang studierte er die handgeschriebenen Aufzeichnungen, und schließlich stellte der Bürokrat eine Rechnung aus, nahm das Geld entgegen und quittierte die Übernahme. Die Poliziei kontrollierte Meldezettel und verteilte RSA-Briefe am Abend, während andere Polizisten später, – nachts – die Sperrstunden in einem buchstäblich stets offenen Haus suchten. Das Magistrat kam einmal vorbei und beanstandete eine fehlende Hausnummer. Die Post stellte stets ohne Hausnummer zu.

Der Indianer und der Zustand lieferten sich ein mehrtägiges Duell am Gelände, wo, in der Nähe des Feuerplatzes, der Indianer dann unterlag: er bekam mit den stahlbesetzten Stiefeln in den Magen getreten. Der Sieger war Sieger, und der Indianer wanderte nach Südeuropa aus.

In einem Traum wurde ich auf dem Müllberg, der sich nach zwei Jahren durch diverse Gebäudeschleifungen am Gelände erhob, zwischen den nicht allzu erträumten Ratten munter, in meiner Hand eine Stromgitarre. Ich sang Lieder im Sonnenuntergang, bloß es war schon Nacht; ich träumte damals auch vom Krieg auf auf den Eisklippen von Kaspar David Friedrich, auf ganz dünnem Eis, aus dem sich Müll emporschob wie andernorts die Lava aus der Erde. Und wenn schon dünnes Eis: wieso nicht darauf tanzen? Apropos Eis, apropos Winter: er nahm alles in Besitz, die Stromnetze, die Hauswände, die Fußböden, die Sitzungen, ja die Menschen selber etc etc.

Wir nannten sie einfach die "Sandler", die Obdachlosen, die sich im Stiegenhaus unter der Treppe eingenistet hatten. Im Winter zwischen den Ratten kochten sie Glühwein, den man dann im ganzen Haus roch. Manchmal sangen sie ihre Lieder. Ihre Streitereien dann im Suff waren laut und brutal.

Die Kinder hatten Sch. an einen Stuhl gefesselt und tanzten um ihn; ich weiß nicht, wer ihm seinen Bart zu einem Hitlerbärtchen zurechtgestutzt hat, in einem Mantel wie Napoleon, als der Winter kam; er fletschte die Zähne wie eine Katze. Ein paar Monate nach dem Skinheadüberfall, im November, wurde im ältesten Haus, neben der Konzerthalle, ein Feuer gelegt, das Stockwerk über der Havenbar fackelte ab, das Dach blieb bis zur Schleifung des Gebäudes 1993 schwarz angesengt, die Räume unbewohnbar. Schon einen Tag später wurden die Halle aufgebrochen, die Fenster zerborsten und Schlösser heraus gebrochen, schließlich wurde der Turm mit der PA-Endstufe einfach von den Boxen abgeschnitten und geraubt. Zurück blieben die riesigen blauen Turbosoundboxen, mit den abgeschnittenen Kabeln und zerstörten Hochtönern freilich. Am nächsten Abend, in den Brandspuren (es roch überall noch speckig-rußig nach Feuer), mit improvisierten PA-technischen Setup, spielte schließlich Eliott Sharp zum ersten Mal am Hafen.

Zu einer Zuspitzung der Ereignisse kam es rund um ein Fußballspiel des mit einer eher linksgerichteten Anhängerschaft ausgestatteten Vereins Wacker Innsbruck gegen einen mit einer eher rechtsgerichteten Anhängerschaft ausgestatteten Verein aus Italien oder Deutschland im Zuge irgendeines Europacupspiels. Im Vorfeld kam es zu Ankündigungen und Aufrufen bis dieser Gelegenheit gleich das rote Schmutznest Haus am Hafen auszulöschen. Ein paar Tage stand das Areal unter Polizeischutz, und die zahlreichen Anrufe bei der Polizei ließ diese ein paar mal anmarschieren, ein Dutzend Polizeiautos mit ein paar Dutzend herausspringenden Polizisten, sie sprangen zu uns Wartenden in die Küche, das atemlose, aufmerksame Gesicht des Polizeioffiziers streckten wir unsere verunsicherten, atemlose Gesichter entgegen, wir hatten allerdings niemanden bemerkt, wir hatten niemand verständigt, die angekündigten Hooligans blieben diesmal dem Areal fern. Wie ein Magnet zog der Platz auch allerlei Idioten an, und löste bei ihnen noch idiotischere Aktionen hervor. Einer schoss mit einem Luftdruckgewehr mal auf die Ruinen, was zur Erstürmung des Flughafengebäudes durch das Mobile Einsatzkommando führte, allerdings erst etwa drei Stunden später. Bis auf eine genehmigte Gasdruckpistole wurden keine Waffen gefunden, der Schütze war mit seinem Luftdruckgewehr schon lange weg, weil er kein Bewohner war. Die drei anderen Häuser am Areal, etwa 100 Meter entfernt, waren erst gar nicht erstürmt worden, wobei dort mit absoluter Sicherheit auch keine Waffe gefunden worden wäre.

Das Material sondert sich einfach von den Gedankenströmen ab, bleibt liegen, wie Felsbrocken in der Wiesen, nachdem sich der Gletscher/Ferner zurückgezogen hat.



Schiffsfragment



Was für eine schönes Schiff sie doch war. Das Schiff sollte allen gehören, zu gleichen Teilen. Da lag sie im Trockendock, die Santa Precaria, und wir überholten sie. Wir schrubbten die Muscheln und Algen vom Rumpf und gaben ihr einen neuen wasserdichten Anstrich in tiefem Schwarz, das sollte sie nachts fast unsichtbar machen. Ein stealth-Schiff sollte sie sein. Und schwarz, in dieser Gegend, war und ist tagsüber wohl auch eher unauffällig. Weiters unauffällige Rettungsringe. Weiße und schwarze Segel, je nachdem. Mit 30 Kanonen. Die Haupthäfen wollten wir erobern oder zumindest kanonieren. Wir wollten das Monopol zerstören, uns alle befreien. Dazu besorgten wir Sender, so verrückt das jetzt klingt. Und wir sendeten. Und jeder, der da irgendwo an einem Radioapparat zur richtigen Stunde auf der richtigen Piratenfrequenz war, konnte mithören. Meist zogen wir mit dem Funken sofort die Aufmerksamkeit der Küstenwache auf uns, aber die Santa Precaria ist immerhin eines der schnellsten Schiffe der 7 Meere und: stealth. Die Statue am Kiel war aus einem einzigen Stück Kirschholz gefertigt, drei Meter lang. Es war überhaupt ein Holzschiff, kein einziger Nagel verbaut, kein Stück Metall. So war es elektromagnetisch neutral. Mal in die eine Bucht, mal in die andere Meeresströmung. Das Meer war schon damals voll mit refugees, damals nannten wir sie wegen ihrer Boote boat people. Nichts ging damals schon so leicht über die Grenzen wie Geld. Spurlos. An den Adressierungkapazitäten von Zahlenräumen kann die Anonymität bestimmter Geldflüsse nicht liegen, meinte ein Bekannter. Also sagten wir zu dem alten Käptn: „Erst wenn wir auch dein Tagebuch lesen dürfen, und das Logbuch und die Funksprüche, erst dann darfst du unsere Tagebücher lesen.“ Er winkte sofort ab. Das war ein psycholgisch wichtige Grenze. Aber eigentlich waren Kapitäne nicht mehr vorgesehehn.

Was für ein schönes Schiff sie war. Niemand weiß mehr, warum sie nie in See stach. Segelschiffe gibt es nur mehr auf der alten Donau. Inzwischen fahren ja alle mit Schweröl. Seit Lehman-Brothers ist der Erdölpreis im Keller, dann kam der arabische Frühling...es war nur mehr ein Fragment eines Schiffes, ein Schi[ff] sozusagen, in dem Bewohner ihren Müll ablegten. Schließlich übernahmen Ratten das Fragment, das von Schlingpflanzen schon überwachsen war.
Das Fragment müsste noch irgendwo zu finden sein.



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Fotos und Bilder (c) Markus Lindner